Mittwoch, 27. Oktober 2010


Es begann damit, dass meine Nation wieder einmal zum Gasque einlud. Diesmal allerdings mit Motto und allgemeiner Verkleidungspflicht. Gemäß der ausgegebenen Parole "The American Dream" kam ich natürlich auf die einzig richtige Idee, besorgte mir Hut, Hawaiihemd und Kippe, sprach mich mit meinem imaginären Anwalt ab und machte mich auf den Weg.



Neben den obligatorischen Cheerleadern, Freiheitsstatuen und Marilyn Monroes war durchaus auch Fantasie im Spiel. Zwei Weißkopfseeadler versuchten trotz Schnabel an ihrem Begrüßungswhiskey zu nippen, Abraham Lincoln mit Heiligenschein verteilte fröhlich Flyer und eine Gruppe von Hinterwäldlern hatte sich eigens einen Wohnwagen gemietet und verbreiteten vor der Nation Assi-Stimmung, während drinnen Barbie, Goldgräber, viele illegale Einwanderer, eine Gruppe von Amish, eine zweiteilige Golden Gate Bridge sowie jede Menge Cowboys, aber keine Indianer ihr Unwesen trieben.


Das Besondere an diesem Gasque war aber nicht nur das Motto, sondern auch die Tatsache, dass aus irgendeinem Grund alles rückwärts stattfand. Das Essen begann also mit der Nachspeise und auch das komplette Programm lief rückwärts ab. Das allein machte den Abend aber noch lange nicht zu etwas besonderem - das lag an den Kostümen. Mein erstes Gasque war auch schon ein Erlebnis gewesen, aber ein stilvoll-würdiges. Dieses hier war wild.

Die Cowboys gaben ihre Zustimmung durch Schüsse kund, die Black-Power-Aktivisten lieferten sich Wortgefechte mit den Hinterwäldlern, die unglücklicherweise am selben Tisch platziert worden waren (neben mir), ein Eishockeyteam war stilecht während des gesamten Abends auf Inline-Skates unterwegs - auch als der Alkoholpegel zunehmend anstieg. In den Pausen lieferten sie sich Hockeyduelle und auf dem Efterfest rollten sie so lange volltrunken über die Tanzfläche, bis alle drei stürzten und es nicht mehr in die horizontale schafften - zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass sie es zur Belustigung der Umstehenden ausdauernd versucht haben.
Man stelle sich dazu die andauernde Schnapsliedersingerei vor und kann sich denken, wie faszinierend dieser Abend war!


Am Sonntag dann setzte ich mich in den Zug nach Stockholm, um mich dort an Bord eines Schiffes zu begeben. Student Cruise nannte sich das und klingt weitaus beschönigender als das, was es eigentlich ist: Eine Gelegenheit zum Billigsaufen im teuren Alkoholland Schweden.

Die Fahrt sollte nach Tallinn gehen und war absolut bezahlbar, für mich der eigentliche Grund, mitzufahren. Den meisten anderen ging es in dieser Hinsicht wohl nicht so; möglichst hohe Promillezahl und Kerben im Kabinenklappbettpfosten dürften eher eine Rolle gespielt haben.

Jedenfalls sammelte sich der Großteil der Studenten vor dem schiffeigenen duty-free-shop, noch bevor die Fähre überhaupt abgelegt hatte. Auch ich ließ mich von der Aussicht anstecken, den guten alten Captain 10 Euro billiger als auf dem skandinavischen Festland erstehen zu können und griff zu.
An der Kasse merkte ich, wie bescheiden mein Einkauf war - andere hatten so viele Paletten Bier gekauft, dass sie gleich ein Ziehwägelchen vom Hersteller mitbekamen.
Es dauerte keine Stunde, bis das gesamte Schiff heillos betrunken war und durch die Gänge tobte.


Diese Kreuzfahrt war im Grunde nichts anderes als ein Festival mit Seegang und bedeutend schlechterer Musik. Es gab außerdem genau denselben Effekt, den man auch im Zelt verspürt, wenn die Freundin plötzlich gewisse Bedürfnisse verspürt - Platzmangel. Und so setzte ich mich also gegen vier Uhr morgens, schon wieder halb nüchtern, mit einem Buch auf den Korridor, damit meine Reisebegleiterin es geschätzten 80% der Mitreisenden gleichtun konnte - an diesem Abend waren diejenigen, die keinen Sex hatten, eindeutig in der Minderheit. Das ganze Schiff kam mir vor wie eine einzige Fleischbeschau, ein hier bin ich, nimm mich, schlimmer als jedes Festival.
Der Kerl erwieß sich jedoch als Niete, jedenfalls konnte ich schon nach kurzer Zeit wieder in meine Kabine zurück.


Dementsprechend verkatert erwachte das Schiff am nächsten Morgen. Langsam schleppte sich nach und nach ein Großteil der Studenten vom Schiff, um sich Tallinn anzusehen - sicherlich schafften es nicht alle aus den Betten.
Ich jedenfalls vergas den wenigen Schlaf, sobald ich in der Stadt war. Allein dafür hat sich die Reise gelohnt! Ich wusste vorher kaum etwas über die Stadt - sie liegt in Estland und ist also Teil des Baltikums, eine Gegend in der die wenigsten jemals gewesen sein dürften oder einen Urlaub planen.

Ich kann nur sagen, dass das ein Fehler ist. Die Altstadt ist wunderschön, voller alter Häuser die nach einer Mischung aus Osteuropa und Skandinavien aussehen. Das Essen und der Alkohol sind billig, die Sprache mit dem finnischen verwandt und daher absolut verrückt, und ab dem 1. Januar gibt es dort sogar den Euro.

Am Hafen begrüßt einen ein Schnapsladen nach dem anderen, da vor allem Finnen gerne mal den kurzen Seeweg nehmen um billig einzukaufen, aber die Stadt selbst hat nichts von diesem Billigimage, dass der erste Eindruck vermuten lässt.



Ich lief mir jedenfalls die Füße wund und landete am Abend fertig, aber glücklich in meiner Kabine. Meine Mitreisenden wollten sich die Gelegenheit auf den nächsten Abend voller billigem Schnaps aber nicht entgehen lassen und beschlossen, weiterzufeiern. Ich dagegen hatte keine Lust auf einen zweiten Abend voller Vollsuff und dem entnervten Abweisen von dummen Anmachen und gab mich dem Fernsehen hin. Nach zwei Monaten völliger Abstinenz verfolgte ich fasziniert diverse niveaulose schwedische Fernsehsendungen und ging früh schlafen.

Das stellte sich als kluge Entscheidung heraus, denn morgens um sechs kam meine Zimmergenossin wieder, allerdings in Begleitung. Da sie sich keine Mühe gab, leise zu sprechen, war es mit dem Schlaf vorbei. Sie ersparte uns allen eine peinliche Sitation, indem sie nach ein paar Minuten Rummachens (ja, man hörte es durch die Bettdecke, die ich mir in weiser Vorraussicht über den Kopf gezogen hatte, als die Tür aufging) einschlief und der Typ die Kabine verließ.

Da ich ohnehin wach war, stand ich auf und erlebte einen sonnigen Morgen, während wir durch die Schären vor Stockholm fuhren - ein Anblick, der den wenigsten meiner Mitreisenden vergönnt war.

Fazit: Tallinn ist großartig, aber so eine Fahrt übersteht man entweder angepasst an die Masse (also betrunken) oder mit einer großen Portion Verständnis und Oropax.



Ich bin übrigens kein Freund des blogspot-eigenen Layouts - das will eifnach nicht so wie ich es will. Also nicht über die wild im Text verteilten Fotos wundern - ich habe einfach keine Lust mehr mich damit rumzuärgern.

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